‘15 la taverne de l’arbre sec

I

Ich starre auf das leere Papier vor mir und zünde eine Zigarette an. Heisse Asche fällt auf das Blütenweiss und brennt kleine, am Rand schwarz-braun verfärbte Löcher in die Zellulose. Die Zigarette verglüht, ohne dass ich einen Zug davon genommen hätte. Es macht mir nichts aus – ich rauche nicht. Habe ich nie. Doch es schien mir beinahe unmöglich es nicht zu tun und sei es nur das mechanische Anzünden und Halten des Tabakproduktes. Es schien mir zu passen – zum Pariser Chic. Warum sollte ich auch hier draussen Platz nehmen, wenn ich nicht rauche? Der Tag, der schon über dreiviertel fortgeschritten ist, war weder schön, noch wird er es noch werden. Im Gegenteil: Die dunklen Quellwolken versprechen baldigen Regen und der Wind reisst dem Herrn, der gerade noch in Sichtweite die Strasse passiert, fast den Hut vom Haupt. Die leicht gebückte Haltung, eine Hand an der tief ins Gesicht gezogenen Hutkrempe, die andere in der Manteltasche vergraben, kommt mir nur allzu bekannt vor. Ich habe im Laufe der Jahre ein Faible – man könnte schon fast sagen eine Zuneigung – zu Hüten entwickelt, aber das tut hier eigentlich nichts zur Sache. Ich befinde mich nur ein paar Querstrassen vom Louvre entfernt und trotzdem scheint mein Sichtfeld immer mehr menschenleer – auch der Mann von vorhin ist nicht mehr zu sehen. Einen Herzschlag lang habe ich nicht hingeschaut und er ist weggefegt worden. Nur noch ab und zu gehen vereinzelte Gestalten vorbei; doch sie sind weit weg, gehen schnellen Schrittes auf ihren roten Schuhsohlen (zu einer Marke gehörend deren Namen ich mir nie merken kann, viel zu teuer ist und hier trotzdem von allen getragen wird), zielstrebig auf ein Punkt in weiter Ferne zu. Keine dieser Gestalten hebt im Vorbeigehen den Kopf, keine schaut mich an – warum sollten sie auch? Als die ersten Regentropfen auf mein Gesicht fallen, der Wind scheint den Fallwinkel der Tropfen unnatürlich frontal auf mich zu richten, ist das Blatt vor mir nach wie vor leer. Abgesehen von den kleinen Brandlöchern und den dazukommenden Abdrücken des Regens die ein irrwitziges Muster ergeben. Ich weiss nicht mehr, worüber ich schreiben wollte – oder wem – denn eigentlich wüsste ich niemanden, der meine Briefe tatsächlich lesen würde.

Ich vertreibe mir die Zeit damit, die Tauben zu beobachten. Zunächst scheint es mir eine ganz normale Taubenschar, doch beim genaueren Betrachten fiel mir eine Taube auf: Sie hat keine Füsse mehr. Oder viel eher hat ER keine Füsse mehr. Ich glaube, dass es sich bei der besagten Taube um einen Täuberich handelt. Er bewegt sich stockend auf seinen Beinstümpfen hin und her wobei ich nicht sagen kann, ob Beinstümpfe tatsächlich das richtige Wort ist. Die Beine sind noch völlig intakt, nur die Füsse fehlen. Während ich den Bewegungen aus einem analytischen Interesse folge – es ist sicherlich nicht einfach, ohne Füsse zu gehen – rührt mich das Schicksal dieses Täuberichs. Den ganzen Tag bin ich an Bettlern vorbeigelaufen, an Sans-Papiers, die sich zum Schlafen auf den harten Beton legen. Selbst wenn ich beinahe über sie fiel, weil sie auf der Champs-Elysees mitten auf dem Gehweg kauern, bewegten sich meine Gefühlsregungen im höchsten Fall im Bereich der Verärgerung. Doch nun sehe ich diesen Täuberich und er rührt mich beinahe zu Tränen. Plötzlich scheint die Dämmerung zur Nacht und die Regentropfen zu Giesskübeln geworden zu sein. Ich beschliesse, mich doch noch ins Innere der Bar zu wagen, schliesslich wollte ich etwas trinken und draussen bin ich nicht bedient worden. Ich lasse beim Eintreten die Türe einen Spalt offen für meinen neuen Taubenfreund. Alle anderen Tauben und Täuberiche sind bereits weggeflogen.

II

Wärme umhüllt mich. Wärme und Dunkelheit. Es ist keine vertraute Art der Dunkelheit. Nicht wie die, die dich erwartet, wenn du in dein Apartment zurückkommst und zu müde bist den Lichtschalter zu betätigen – einfach weil der Tag zu lang war, die Augen zu müde sind und das Letzte, was erstrebenswert wäre, ist sich selbst im Licht oder schlimmer noch im Spiegel zu sehen. Solche Abende kommen gelegentlich vor, in letzter Zeit sogar öfter. Doch wie schon gesagt, es handelt sich nicht um diese Art der Dunkelheit. Und auch sonst um keine Bekannte. Die Dunkelheit ist nicht komplett schwarz. Vor meinen Augen tanzen rote Schatten in verschiedenen Nuancen umher, ein wenig ähnlich wie die Muster, die sich ergeben, wenn man sich mit geschlossenen Augen darauf konzentriert, etwas zu sehen. So ähnlich fühle ich mich im Moment. Ich sehe, ohne dabei etwas zu erkennen. Ein paar Minuten stehe ich so da und als meine Augen sich einfach nicht an die Umgebung gewöhnen wollen, taste ich um mich und finde nach einiger Zeit nervösen Tastens mit meinen Gliedmassen einen Tisch. Präziser gesagt: Mit meinem Oberschenkel, der unsanft dagegen stösst. Halb über den Tisch liegend ertaste ich den dazugehörigen Stuhl auf der mir gegenüberliegenden Seite. Ich gleite der Wand entlang, wobei «gleiten» ein weitaus eleganteres Vorankommen vermuten lässt als es hier der Fall ist. Ich quetsche mich eher zwischen Wand und Tisch durch und lasse mich auf den Stuhl fallen. Vielleicht wäre auf der anderen Seite mehr Platz gewesen um an dem Tisch vorbeizukommen, doch die Gefahr über irgendetwas zu stolpern und hinzufallen ist mir zu gross gewesen. Sitzen ist gut, denke ich, sitzen ist besser als stehen, weniger gefährlich. Ich zucke zusammen, als plötzlich ein Wolke von Geräuschen, einer Ansammlung kleiner Speerspitzen gleich, auf meine Ohren prasselt. Ein Tosen, das auf meine Ohren prallt, als hätte ich mich vorher hinter einem schalldichten Vorhang befunden, der nun mit einer kleinen Handbewegung fallengelassen wurde. Doch dieses Phänomen hat wohl weniger mit der Bar zu tun wie mit mir. Manchmal entzweien sich meine Sinne, dann kommt es mitunter vor, dass sich mein Hirn dazu entscheidet einen Teil völlig auszublenden. Ich verdränge des öfteren Töne oder auch mein Wärmeempfinden. Bewusst wird mir das erst im Nachhinein – so wie jetzt – oder als ich mich einmal leichtbekleidet, barfuss und schon ein wenig bläulich im Schnee stehend wiederfand um die Landschaft zu betrachten (wobei die Landschaft grösstenteils aus den ansprechend gewölbten Muskelbergen meines Nachbars bestand – der mich trotz leichter Bekleidung keines Blickes würdigte). Ich weiss nicht, ob diese Eigenschaft von Vorteil oder unnütz ist. Meistens tendiere ich zu Letzterem. Nach kurzer Zeit – in etwa der Zeitspanne, die ein Weinglas benötigt um umzufallen, zu zerbrechen und ein weisses Tischtuch mit kleinen roten Seen zu überziehen – haben sich meine Ohren an den Geräuschpegel gewöhnt. Ich kann immer noch nicht viel erkennen, meine Augen nehmen gerade mal grobe Umrisse wahr, doch ausgehend von der Fülle an verschiedenen Stimmen und dem Hall in dem Raum vermute ich, dass die Bar weit grössere Räumlichkeiten besitzt als von aussen vermutet. Die Augen geschlossen beginne ich eine Stimme von der anderen zu unterscheiden und so werden aus der unverständlichen Geräuschkulisse nach und nach einzelne Gesprächsfetzen. Eine weibliche Stimme, samtig leicht und doch stark. Ich stelle mir die Frau dazu gross vor, nicht unattraktiv gross, nicht breit, schlaksig oder gar unbeholfen. In meiner Vorstellung überragt ‹die Grosse› alle Anwesenden um einen Kopf und wirkt trotzdem noch elegant. Sie spricht von ihren Verflossenen und nicht wenig Männer sind ihrem Charme verfallen. Aus einer anderen Ecke vernehme ich eine dunkle Stimme, unverkennbar die eines Mannes. Der Tonfall wirkt betrübt und er redet, als hätten seine Stimmbänder lange keine fröhlichen Töne mehr gebildet. Vielleicht haben sie es unterdessen verlernt und selbst wenn er fröhlich gestimmt wäre, könnte er es nicht durch seine Stimme zum Ausdruck bringen. Die Vokale klingen dumpf, beinahe schwarz. Er redet von seinem Bruder, doch es sind nicht die Worte an sich, sondern die Melodie des Satzes, die vom Schmerz berichten. Als würde sein Herz den Klang der Stimme leiten und die Worte werden unwesentlich. Ein anderer Mann, der Stimme nach hat er seine Nüchternheit bereits in ein paar Gläsern ertränkt, rühmt sich mit einem Gebäude das er bauen will. Hoch soll es werden, so hoch wie keines zuvor. Doch er habe Mühe mit seinen Arbeitern, die den verschiedensten Sprachen mächtig sind – nur seine Worte werden geflissentlich überhört oder bleiben schlicht unverstanden. Er ist wohl, wie mancher einer vor ihm, der Hybris anheimgefallen. Der Geschichte einer Frau, die sich selbst Rachel nennt, höre ich für längere Zeit zu. Sie muss sich in meiner Nähe befinden, ich kann ihre Wort klar und deutlich verstehen. Ich nehme die Bitterkeit in ihrer Stimme wahr, als sie darüber spricht, keine Kinder gebären zu können und Resignation als sie erzählt, dass ihr Mann deswegen mit ihrer Schwester und Halbschwester schläft. Ich höre keine Wut, nur ab und zu das leichte Brechen der Stimme das entsteht wenn jemand weint. Sie hat eine Begabung dafür, unglücklich zu sein. Zu dieser Tageszeit sind Frohnaturen reinen Herzens rar und ich bezweifle, dass sich hier auch nur zehn anständige Männer finden lassen würden.

III

Ein heller Lichtblitz hinter meinen geschlossenen Lidern, dicht gefolgt von Türknallen das die Helligkeit wieder mit sich nimmt. Kurz darauf wiederholt sich das Ganze. Beim dritten Mal bleibt das Türknallen aus und ich öffne langsam meine Augen. Es schmerzt, wie unter kleinen Elektroschocks, als sich das helle Licht den Weg durch meine Pupillen bahnt. Nur blinzelnd nehme ich die Lichtquelle wahr: Ein Raum, der sich zu meiner Linken auf der anderen Seite des Raumes aufgetan hat. Die Türe, die nun offen steht, gibt den Blick frei auf etwas, das eher die Bezeichnung Gang oder Nische wie Raum verdient. Die Wände sind weiss gekachelt. Auf der einen Seite wird das Licht von einer metallenen Oberfläche reflektiert. Eine chirurgisch clean wirkende Sammlung von Messern in den verschiedensten Grössen und Formen. Nur eins haben sie alle gemeinsam. Ihre unverkennbar tödliche Schärfe. Es handelt sich wohl um den Zugang zur Küche. Das weisse Neonlicht taucht den vordersten Teil der Bar in eine unnatürliche Atmosphäre. Rechts neben der Küchentüre, von mir aus gesehen also ebenfalls zu meiner Linken, befindet sich eine Theke. Hinter der Theke hängt ein riesiges Gemälde eines Berges. Darauf oder daneben, ich bin nicht sicher oder dieser Part noch direkt zum Gemälde gehört oder nicht, ist eine grosse Schrifttafel angebracht, eine wie sie bei berühmten Statuen oder Kriegsdenkmälern zu finden ist. Die Schrift darauf kann ich nicht lesen. Der Berg hat eine stolze Ausstrahlung, mächtig. Ich fixiere die von weissem Schnee überzogene Bergspitze. Ein weisses Dreieck, das zwischen dem kahlen Grau des Gesteins und dem Marineblau des Himmels steht. Für einen kurzen Moment ist dieses Dreieck der Dreh- und Angelpunkt meiner Welt. Der Mittelpunkt eines schnell drehenden Karussells, von dem man den Blick erst wieder abwenden kann, wenn die Höllenfahrt zu Ende ist. Die Theke ist aus dunklem Holz gefertigt und das Ende verschwindet im dunklen Teil der Bar. In etwa vier grossen Schritten könnte ich die Strecke zwischen meinem Tisch und der Theke zurücklegen. Oberhalb der Holztheke hängen mehrere Lampen, die zwar eine gewisse Helligkeit besitzen, an sich jedoch nichts beleuchten. Dieses Licht scheint nicht für meine Augen gemacht zu sein. Das erklärt, warum ich bis anhin beinahe nichts erkennen konnte. In der Mitte der Lampe scheint das rote Licht noch hell, löst sich gegen aussen doch immer mehr auf, um schlussendlich in einen diffusen, beinahe unsichtbaren Sumpf überzugehen. Eine Hand erscheint hinter der Theke in dem Lichtpegel der Neonröhre. Sie ist sehr dicht von dunkeln Haaren überwuchert. Am Kleinsten und am Ringfinger blitzt silbernes Metall auf: Zwei Ringe. Auf dem Ring am kleinen Finger prangt ein roter, glatt geschliffener Stein. Die Hand greift sich eine Weinflasche und eine Zweite kommt, einen Flaschenöffner haltend, dazu. Auch diese Hand ist stark behaart – fast noch stärker – wie mit Fellhandschuhen überzogen und ebenfalls mit zwei Ringen geschmückt. Dasselbe metallische Glitzern, derselbe tiefrote Stein auf dem kleineren der Beiden. Der zu den Händen gehörende Körper agiert weiterhin in der Dunkelheit. Die geschickten Bewegungen der Hände, schnell und mit einer eleganten Routine, bannen meinen Blick. Erst als die Bewegung für mehrere Sekunden innehält wandert mein Blick aufwärts, dorthin wo ich den Kopf des Mannes – es waren ohne Zweifel Männerhände – vermute. Ein Ohrläppchen bewegt sich in den Schein des Lichts. Kurz danach folgt das Zweite. Nicht nur die Hände, auch die Ohren sind unglaublich haarig. An den Ohrläppchen baumeln Ringe – an jedem einer – mit jeweils einem Kreuz versehen. Mein Atem beschleunigt sich. Sie scheinen unnatürlich, losgelöst vom Körper in der Luft zu schweben. Das Gesicht dazwischen ist nicht zu erkennen, im Schatten einer Kappe verborgen. Ein unwohles Gefühl breitet sich in meiner Magengrube aus und doch kann ich meinen Blick nicht lösen. Ob ich etwas sagen soll? Im Getöse des Etablissement kaum sinnvoll. Um mich über die Entfernung hinweg verständlich zu machen, hätte ich meine Stimme erheben müssen. Ich öffne den Mund und schliesse ihn wieder. Unweigerlich unterdrücke ich den Impuls, mich zu entschuldigen. Doch wofür? Dafür, dass ich hier bin? Meine körpereigenen Botenstoffe versuchen mich zu beruhigen. Serotonin vertreibt meine körperliche Anspannung, lässt mich ruhiger werden. Doch mein Verstand ist immer noch angespannt, meine Gedanken überschlagen sich und bilden kleine Knoten. Ob ich gehen soll? Der Mann nickt mir zu, jedenfalls schliesse ich das aus der Ab- und Aufwärtsbewegung seiner Ohren. Ich sacke in mich zusammen und ohne genau zu wissen warum, nun füllt sich auch mein Kopf mit einem einzigen Gefühl an dem ich beinahe zu Platzen drohe. Erleichterung. Der Mann zieht sich wieder ins Dunkel zurück. Ob er mich wohl bedienen würde? Erst jetzt merke ich, dass der Platz zwischen meinen Händen, wo normalerweise ein gut gefülltes Weinglas steht, nach wie vor leer ist. Ich bin die ganze Zeit über, in der ich schon hier sitze, nicht von einer Bedienung angesprochen worden. Ob sie mich wohl bewusst ignorierten?

Mein Blick schweift durch den erhellten Teil der Bar. Unmittelbar neben mir befindet sich ein Geländer, aus demselben dunklen Holz gefertigt wie die Theke. Es sperrt den Zugang zu einer Treppe ab, deren oberste Stufe auf der Seite der Küche liegt. Sie führt nach unten, nicht nach oben. Ich strecke meine Hand aus und berühre das Holz. Es ist kälter als ich vermutet habe und fühlt sich ungewohnt nass an, als wäre es die Planke eines Schiffes. Teak, das ab und zu von den Wogen auf hoher See getroffen wird und eine gewisse Feuchtigkeit behält, ohne dabei rutschig zu werden. Ich fühle mich wie ein Blinder Passagier auf einem Schiff, weder die Destination noch die Besatzung sind mir vertraut. Ich fühle wie ein Sturm aufkommt, wie meine Gedanken anschwellen nur um am Rand meines Bewusstseins zu branden. Mein innerer Kompass dreht sich im Kreis, schwankend suche ich nach Orientierung. Steuerbord. Zu meiner Rechten,  befindet sich die Eingangstür, das weiss ich. Der Lichtkegel aus der Küche endet mehrere Handbreite davor. Gerade vor mir befindet sich ein Tisch – nur schwach beleuchtet – der sich wohl in den hinteren Teil des Raumes erstreckt. Darüber dieselben roten, diffusen Lampen. Begleitet von lautem Rufen wird etwas in mein Blickfeld geworfen. Etwas, das aussieht wie ein Schweinekopf, der auf dem Tisch zu liegen kommt. Oder eher über dem Tisch, leicht schwebend. Und dann ein Knall und danach folgende Dunkelheit.

IV

Mit dem Erreichen der letzten Treppenstufe tauche ich in den süsslichen Geruch ein, der sich hier unten angesammelt hat. Der Geruch scheint schwer im Raum zu hängen, denn eine Stufe zuvor schien mir die Luft noch klar – so klar wie sie in einer Bar zur Nachtzeit nur sein kann. Vielleicht bin ich gegen die anderen Gerüche nur immun geworden – geruchsblind – weil ich bereits längere Zeit im oberen Stock mit den dort dazugehörigen Ausdünstungen verbracht habe. Das, was ich einatme, hat nichts Sanftes an sich, nicht das zarte Umhüllen eines teuren Parfums, das sich nach Sekunden wieder verflüchtigt und nur sachte ein unterbewusstes Verlangen weckt. Vielmehr erinnert es daran ins Wasser gestossen zu werden, mitten auf dem Ozean, bei Windstärke Neun und Minustemperaturen. Meine Nackenhärchen stellen sich auf und ich schnappe nach Luft, bis ich erleichtert bemerke, dass ich in diesem Geruchsmeer atmen kann. Ich atme tief ein, unterdrücke die aufkommende Übelkeit und atme wieder aus. Es riecht nach Schweiss, gemischt mit dem süssen Unterton einer überreifen Frucht, die bereits jede angenehme Frische verloren hat und nach Paraffin, Kerzenwachs. Meine Augenlider, die ich – wie so oft an diesem Abend – geschlossen hatte, öffnen sich. Im flackernden Licht der Kerzen dringt der Raum, in dem ich mich befinde, in mein Bewusstsein. Nun – ich befinde mich noch nicht zur Gänze darin, mehr auf der Schwelle ohne wirklich einen Teil davon zu sein. Meine Augen fokussieren den hellsten Punkt im Raum wie die Mücke das Licht. Eine Ansammlung von Kerzen steht auf dem Boden. Ob sie unterschiedlich schnell brennen oder von Anfang an verschiedene Grössen hatten, ist schwierig abzuschätzen. Es ist wohl auch nicht relevant. Das Gesamtbild der verschieden hohen Kerzen erinnert an den Altar einer Kirche. Es ist lange her, dass ich das letzte Mal in der Kirche war und noch länger, dass ich in der Kirche eine Kerze für jemanden angezündet habe. Ich frage mich, ob es hier wohl noch Kerzen gibt, die darauf warten entflammt zu werden. Ich sehe keine und eine Kerze auszublasen, um sie für mich wieder anzuzünden scheint mir nicht rechtens. Als ich über die Kerzenwogen hinweg sehe entdecke ich ein Paar High-Heels, die ihrem Namen alle Ehre machen. Die langen Beine, die in den Schuhen stecken, sind von schwarzen Strümpfen bedeckt die bis knapp über die Knie reichen. Danach nackte Haut. Nicht vollkommen nackt; eine schwarze Miederhose und ein BH bedecken die intimsten Teile des weiblichen Körpers. Der Stoff, sicherlich von hoher Qualität, schimmert samtig im Licht der Kerzen und doch kann er meine Aufmerksamkeit nicht länger als ein paar Sekunden bannen. Die nackte Haut fasziniert mich. Ein feines Muster zieht sich darüber, weiss mit einem leichten rosa Schimmer glitzern die Schuppen im Licht. Vom Rand der Miederhose erstrecken sie sich über den Rücken, die Arme, hin bis zu den Fingerspitzen wo sie nach und nach kleiner werden bis die einzelnen Elemente nicht mehr zu erkennen sind. Die Gestalt steht vor einem an der Wand befestigten Spiegel in dem ich erkenne, dass die Schuppen auch den aus dem BH quellenden Brustansatz bedecken. Hinauf zum Hals verdichten sie sich. Wo vorher das Muster noch unklar war, wird es hier tiefer, die einzelnen Schuppen klarer, die Furchen dazwischen grösser. Der Hals ist umschlossen von einem breiten Kragen der direkt aus dem Hals wächst, gegen oben dünner wird und in den schmalen, länglichen Kopf einer Schlange übergeht. Der Kragen spreizt sich immer wieder aus, gleichmässig wie ein Schild, nur um kurz danach wieder in sich zusammenzufallen. In demselben Rhythmus bewegt sich der gesamte Körper wippend vor und zurück. Den an der Wand hängenden Spiegel fixierend richtet sich ihre Aufmerksamkeit nicht ihrem eigenen Erscheinungsbild zu, sie beobachtet etwas anderes: Etwas, was sie völlig einnimmt. Die Augen funkeln in einer Mischung aus Begehren und Verabscheuung, die ich selten in dieser Intensität gesehen habe. Die Gefühlsregung könnte klarer nicht sein: Neid.

Ich höre die beiden, bevor ich sie sehe. Genauer: Ich höre IHN. Er gibt ein keuchendes Schnaufen von sich – ein Grunzen – wenn die Tonlage nicht so unnatürlich hoch wäre. So ist es mehr ein kraftvolles Fiepen. In einem anderen Umfeld hätte ich einen Erstickungstod befürchtet. Er steht zu meiner Linken. Der massige Oberkörper – weder muskulös-massig noch fett-massig, sondern auf eine unnatürliche Art breit gebaut massig – steckt in einem dunkelvioletten Jackett. Der Stoff knittert sich an den Stellen, wo sich ihre Beine um ihn schlingen. Die ledrig grauen Hände umfassen ihre Brüste und pressen ihren Oberkörper an die Wand. Er – ich nenne ihn Mister Nashorn – legt den Kopf in den gepanzerten Nacken, sein Horn mächtig und steinhart gegen den Himmel gestreckt. Ich bin froh, dass sein Jackett lang genug ist um weitere derartige Gliedmassen zu verbergen.

An regnerischen Tagen gehe ich eigentlich nur ungern in Cafés oder Bars. An diesen Tagen scheinen sich mehr liebeswütige Paare in den Etablissements zu befinden als sonst. Anstatt sich im Bett zu verkriechen – wie das normale Leute tun, wenn sie nicht gerade arbeiten müssen – spriessen sie aus dem Erdboden, um sich die vom Regen durchnässten Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streichen, sich gegenseitig mit Cappucinoschaum zu füttern, der dann natürlich von dem viel zu kleinen Löffel schwappt und natürlich unweigerlich vom Partner aus dem Gesicht geküsst werden muss. Wobei das für Aussenstehende ohne rosarote Brille (wie mich) eher aussieht, als würde ein Hund seinem Herrchen freudig übers Gesicht schlabbern. Manchmal denke ich, dass sie dieses alberne Kokettieren nur an den Tag legen weil sie wissen, wie sehr es an meinen Nerven zerrt.

Doch heute ist kein normaler regnerischer Tag und es ist auch nicht meine übliche Bar, in die sonst geh›, und das Verhalten des Paares vor mir hat nichts mit zärtlicher Verliebtheit zu tun. Während sich das immer schneller werdende Fiepen von Mister Nashorn in einen ausgewachsenen Dampfkessel verwandelt, bricht seine Gespielin, Mistress Katze, beinahe vor Langeweile über ihm zusammen. In der misslichen Lage, zwischen der Wand und Mister Nashorn eingeklemmt, betrachtet sie ihre langen, rotlackierten Krallen. Und sie tut es so, als wäre sie bei einer alltäglichen Hausarbeit und würde innehalten, sich selbst  betrachten um wieder einmal zu bemerken wie schön sie doch ist. Nicht, dass mir das je passieren würde – dass ich beim Abwaschen des dreckigen Geschirrs oder beim Fensterputzen innehalten würde, um mich selbstverliebt im Spiegel zu betrachten. Aber sie scheint eine Frau zu sein, die genau dies tut. Eine Frau, die daran gewöhnt ist, zwischen einer Backsteinmauer und einem keuchenden Nashorn eingeklemmt zu sein und dabei neidvolle Blicke einer leichtbekleideten Schlange zu ernten.

Kaltes Metall trifft mich an der Schläfe, gefolgt von lautem Klirren herunterfallender Gläser. Der Kellnerin gelingt es gerade noch das Tablett aufzufangen, bevor auch dieses zu Boden fällt. Sie ist keine grossgewachsene Gestalt – fast schon klein – was sie jedoch doch durch ihre laute, durchdringende Stimme ohne Weiteres wettmacht. Auch das schmal geschnittene Gesicht mit den dunklen, durchdringenden Augen strahlen eine unglaubliche Präsenz aus. Es könnte aber auch an den Hörnern liegen, die sich leicht und elegant aus ihrer gazellenartigen Stirn emporschrauben. Mit lauten Ausrufen macht sie ihrem Unmut Luft. Ich halte benommen eine Hand an meinen pochenden Kopf und will gerade den Mund öffnen um mich zu entschuldigen als die Gazellen-Kellnerin – ich nenne sie der Einfachheit halber Gazkell – sich zu mir umdreht, in die Hocke geht und die Scherben aufwischt. Ihre Augen direkt auf mich gerichtet sieht sie durch mich durch. Als wäre ich Luft. Mistress Katze durchbohrt Gazkell mit ihren Blicken, weil ihr pinkfarbener Cocktail mit Schirmchen der Gravitationskraft zum Opfer gefallen ist. Alkohol hätte ihre Situation sicherlich erträglicher gemacht. Ihre Blicke lassen Gazkells Flüche noch um mehrere Dezibel anschwellen. Selbst als sie in den hinteren Teil des Raumes geht, ist ihre Stimme noch in der gleichen Lautstärke zu hören. Dazu fügt sich das dunkle Grollen eines Zweiten. Zusammen scheinen sie eine Melodie anzustimmen. Eine unfreundliche, beinahe harsche zwar – aber dennoch harmonisch. Der Ursprung des Grollens führe ich auf zwei helle Augen zurück. Erst als ich ein paar Schritte in den Raum trete erkenne ich den Umriss des dazugehörigen Körpers. Der linke Turnschuh stützt sich auf dem Sitzleder des Sofas ab, der Arm auf dem aufgestellten Knie, der rechte Turnschuh mit der Spitze auf dem Boden als die linke Hand gerade das Mundstück einer Wasserpfeife auf den kleinen Holztisch zurückwirft. Daher vermutlich der Unterton einer überreifen Frucht in der Luft. Der dunkle Kopf, in dessen Behaarung das Weiss der Augen klar hervorsticht, gehört klar zu einem Gorilla. Er hat die Haltung eines Paschas, residierend auf dem britischen Ledersofa, dessen Knöpfe schon bessere Tage gesehen haben. Mit seinem breitbeinigem Sitz nimmt er gut die Hälfte des Sofas ein und trotz der Selbstverständlichkeit, mit der er vor Gazkell gestikuliert, wirkt er fehl am Platz. Auch das Bier hat sein Ende auf dem Boden gefunden. Es war das zweite Getränk auf dem Tablett – scheinbar seins – denn die Dame in den schwarzen Miederhosen ist eher ein Wein als ein Biertyp – vielleicht auch Neurotoxin. Immer noch unter lautem Gefluche rauscht Gazkell wieder an mir vorbei die Treppe hoch.

V

In den Gläsern auf den Tischen spiegelt sich der erste Schimmer der Morgendämmerung. In Kombination mit dem Wein, der die meisten der noch halbvollen Gläsern füllt, entsteht das auf dem Kopf stehende Bild eines Sonnenunterganges über dem Meer. Das grosse Fenster hinter meinem Tisch wirkt wie eine Mattscheibe, auf die der Regen prasselt. Es ist nicht viel Licht, das in den Raum dringt, die Regenwolken verhängen nach wie vor den Himmel und der Tag ist erst wenige Stunden alt. Doch die Lichtstrahlen, die sich hierher verirren, fühlen sich wohl genug um zu bleiben und klären die Sicht im Raum. Sowie ich die Breite mit vier Schritten bemass, so beträgt die Länge des Raumes in etwa das Sechsfache. Ich hatte mich nicht geirrt, was die Ausmasse der Bar anbelangt. Der Blick nach hinten gerichtet wirkt der Raum wie das Innere einer Kirche, nur dass zwischen den Bänken noch Tische stehen und die wenigen Weibchen die knien kaum mit Beten beschäftigt sind. Paarweise sitzen sie zu Tisch oder liegen darunter, die endlose Zahl der Gäste. Auf dem Tisch vor mir liegt nach wie vor ein Schweinekopf. Unterdessen bis auf die Knochen abgenagt starren mich die leeren Augenhöhlen, einem Memento Mori gleich, an. Der Tisch ist übersät mit allerlei Dingen, die mal gelebt haben. Knochen häufen sich, manche sauber abgenagt, an anderen ist noch die Hälfte dran. Die umgefallenen Weingläser vervollständigen den Tisch beinahe zu einem Stillleben, das darauf wartet für die Ewigkeit festgehalten zu werden. Es ist ein Schwein, das da isst. Ein Schwein mit dickem Bauch und kleinen, gierigen Augen. Irgendwann wir es selbst auf dem Tisch liegen und sein Kopf mit den kleinen rosa Ohren wird sich zu dem anderen Schweinskopf gesellen. Ihr Tischpartner ist ein Keiler, Schwarzwild. Gejagt von Geistern der Vergangenheit. Als ich sehe, wie er sein Kiefer unablässig öffnet und schliesst ohne dabei aufzuschauen weiss ich, dass zu ihm das Herzenslied des Schmerzes gehört. Herumblickend erkenne ich die zu mehreren Stimmen und Gesprächen gehörenden Gestalten. An der Theke ‹die Grosse›, eine tatsächlich grossgewachsene Frau mit Kamelhöcker, gekleidet in ein kurzes, schwarzes Kleid das mehr zeigt als es verdeckt, ganz so, wie es bei dieser Art von kurzen, schwarzen Kleider üblich ist. Mit aufwändigem Schmuck behangen ist das auffälligste Stück ein Collier. Eine Bestie, deren Sieben Köpfe sich um ihren Hals schlingen, alle 14 Augen mit grünen, funkelnden Steinen besetzt. Auch den Bauherrn erkenne ich schemenhaft. Vier von sechs Beinen auf den Tisch gestützt und vornübergebeugt sitzt er an einem Tisch. Der feine Membran seiner Flügel zittert als er seinen Kopf beugt um einen Schluck des bernsteinfarbenen Getränks vor sich zu nehmen. Whisky, vermute ich. Eine Fliege und nicht die Art, die man anstelle einer Krawatte trägt. Ich mag keine Fliegen, sie sind mir lästig.

Ich betrachte das Bild des Berges, das mir schon zu Beginn des Abends aufgefallen ist. Doch nun ist der stille Stolz, der so majestätisch auf mich wirkte, verflogen. Was zurück bleibt ist eine unnahbare Kälte, eine Leere. Unmittelbar, ohne darüber nachzudenken weiss ich, dass ich nie dort sein werde, diesen Berg nie mit eigenen Augen sehen und den Atem des Berges nie spüren werde. Es macht mich nicht traurig. Im Gegenteil: Die Gewissheit, die mich durchflutet, löst meine angespannten Muskeln nach und nach. Es ist die Erkenntnis nichts ändern zu können und alle Anstrengungen einzustellen. Ich habe die Bedienung nicht registriert, die das Glas Wasser vor mich gestellt hat. Eigentlich bevorzuge ich Wein, aber da meine Kehle sich anfühlt wie nach einer Wüstenwanderung nippe ich an dem Getränk. Ein tiefes Räuspern vor mir und ich lasse das Glas beinahe fallen. Zwei dunkle, bärige Augen richten sich direkt auf mich. Ein Inbegriff der Symmetrie. Nicht nur die dunkelbraunen Augen, die exakt die gleiche Musterung aufweisen. Auch nicht nur, dass er an beiden Ohren dieselben Kreolen mit Kreuzen und an beiden Händen die gleichen Ringe trägt. Als würde die Mitte des Leibes durch einen Spiegel getrennt und zusammen gehalten. Keine Abweichung von der rechten zur linken Seite, sogar das weisse Shirt hat in der Mitte eine perfekte Naht. Auch die Kappe, die früher am Abend einen Schatten auf sein Gesicht geworfen hat, ist nicht mit einem der üblichen Schriftzüge verziert. Kein Nike oder Adidas, auch nicht der Namen einer angesagten Band oder eines Fussballclubs. Es ist eine feine Ansammlung an Linien die wahllos wirken, bei genauerem Betrachten sind jedoch auch diese perfekt symmetrisch. Ich erröte, als ich das zweite Mal das tiefe Räuspern vernehme. Ich musste ihn angestarrt haben, wie Kunst, die im Museum hängt, perfekt konstruiert, ästhetisch ansprechend und doch bleibt mir der tiefere Sinn verborgen. Sein Räuspern war nicht unhöflich. Aber würde man zwischen einer Höflichkeit, die einlädt und einer, die fernhält unterscheiden, würde sein Räuspern in die zweite Kategorie fallen. Seine Hände halten ein edles, aber ein wenig altmodisches Silbertablett mit einem kuppelförmigen Deckel. Er stellt das Tablett vor mir ab. Ich hatte nichts bestellt. Die Ringe verursachen ein leicht klackendes Geräusch, als er den Deckel mit einer kurzen, sachlichen Bewegung entfernt. Er ist genau so schnell wieder im Getümmel der Bar verschwunden wie er aufgetaucht ist. Ich starre auf den Teller vor mir. Darauf, frisch an Olivenöl gebraten, mein Taubenfreund ohne Füsse.

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